
Über die Alchemie der Wahrnehmung
von Eva Winterer
Über die Alchemie der Wahrnehmung
Wo die Sinne ihre eigene Sprache finden: In Federico Rottignis Sensorium Milano, dem "Non-Ristorante", öffnen multisensorische Erlebnisse, authentische Zutaten und persönliche Gefühlswelten neue Bewusstseinsebenen.
von Eva Winterer
Mailand hat seine großen und kleinen Bühnen. Abseits der Inszenierungen der Mailänder Scala, der Laufstege der Milano Fashion Weeks und der kreativen Explosionen auf der Milano Design Week, liegt in einer ruhigen Seitengasse das Sensorium Milano. Ein unscheinbarer Eingang, keine Beschriftung. Viele Gäste gehen bei ihrem ersten Besuch daran vorüber.
Der unscheinbare Auftakt: Wo Erwartungen losgelassen werden
Doch genau hier beginnt eine ganz spezielle Reise. Das Sensorium Milano bezeichnet sich selbst als Non-Ristorante und schließt mit der Zurückhaltung, der an Inszenierungen reichen Stadt, mit einer Besonderheit an: Es lädt ein, die gewohnten Erwartungen an einen Abend, an ein Menü und an einen Gastgeber hinter sich zu lassen.
Wir haben verlernt, auf die Signale unseres Körpers zu hören.
Wir essen, ohne zu schmecken, wir schauen, ohne zu sehen.“Federico Rottigni, Founder & Chef Sensorium Milano
Betritt man diesen Raum, wird man Teil eines multisensorischen Erlebnisses. Die Architektur, das Licht, die Akustik und die sorgfältig gewählten Objekte sind integrale Bestandteile des Ganzen. Jeder Aspekt, jeder Handgriff, jede Tonlage ist darauf ausgelegt, den Gast aus dem Autopiloten des Alltags zu lösen und ihm eine ganz persönliche Sinneserfahrung zu ermöglichen.
Die Umgebung ist nüchtern, alles fokussiert sich auf Gabel und Messer, die vor jedem, an einer Theke sitzenden Gast, positioniert sind. Das klassische Setting ist aufgelöst und gleichzeitig die Bühne für die 9-gängige Menüabfolge. Es steigert die Erwartung auf das was kommt.
Wissenschaft trifft Wahrnehmung: Die magische Lenkung
Diese reduzierte Gestaltung nimmt Anleitung aus einer Methode, die auf neurobiologischen Erkenntnissen basiert. Charles Spence, Professor für experimentelle Psychologie an der Universität Oxford und wissenschaftlicher Gesprächspartner Rottignis, bestätigt die Wirkungsweise solcher Umgebungen. „Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, Informationen aus allen Sinnen gleichzeitig zu verarbeiten, um unsere Wahrnehmung der Welt zu konstruieren“, so Spence.
Ein bewusst gestalteter Raum kann diese Verarbeitung gezielt beeinflussen und so emotionale und kognitive Zustände verändern. Die gedämpfte Akustik reduziert kognitive Last, das warme Licht fördert ein Gefühl der Sicherheit. Der Gast wird unbewusst in einen Zustand der Offenheit und Empfänglichkeit geführt.
Der Komponist der Erlebnisse: Federicos subtile Präzision
Federico Rottigni, der Gründer und Konzeptionist dieses Ortes, bewegt sich mit einer ruhigen Präzision durch den Raum. Er komponiert die Erlebnisse Schicht für Schicht, indem er das Zusammenspiel von Reizen und menschlicher Wahrnehmung konzentriert und doch spielerisch gestaltet.
Die Essenz der Zutaten: Geschichten und Energie
Diese Philosophie manifestiert sich bereits in der Auswahl der Zutaten. Für Rottigni hat Essen eine Dimension, die weit über Nährwert und Geschmack hinausgeht. Seine Beziehung zu den Produkten ist von tiefem Respekt geprägt: „Jedes Element muss eine Geschichte erzählen und eine Energie in sich tragen.“ Er bezieht seine Produkte von kleinen Erzeugern, die er persönlich kennt und deren Arbeitsweise er teilt. Es sind Bauern, Sammler und Züchter, die im Einklang mit der Natur arbeiten. „Ich sehe das nicht als Trend. Für mich ist es eine logische Konsequenz. Denn die Energie und die Intention der Produzenten sind im Produkt gespeichert. Diese nimmt der Gast am Ende zu sich“, betont Rottigni.
Insights
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Sie wollen schon etwas eintauchen in die Welt des Sensorium Milano. Sie Sinne anregen?
Federico Rottigni hat für Sie die musikalische Reise durch den Abend in einer Spotify-Playlist zusammengestellt.
Die gibt es hier zum Download: AYAHUASCA Spotify-Playlist
Im Gespräch mit Silent Luxury verriet Rottigni, dass die Entwicklungsidee hinter dem Sensorium nicht am Reißbrett gezeichnet wurde. Er ließ sie organisch wachsen. „Die Wahrheit ist, dass es keinen bestimmten Moment der Initialzündung gab“, sagt Rottigni. „Zu Beginn war es anders konzipiert, als es sich heute zeigt. Das Sensorium in seiner heutigen Form hat sich sprichwörtlich Schicht für Schicht freigelegt.“ Diese Genese ist der Schlüssel zum Verständnis. Das Non-Ristorante ist das physische Ergebnis einer inneren Suche, einer Hinwendung zur Authentizität, die den kommerziellen Imperativen der Gastronomie bewusst ausweicht.
Rottigni bezeichnet es als starke innere Stimme, die sich als verlässlicher Kompass bewährt hat: „Meine Intuition ist eine Art inneres Feuer, das sich meldet, wenn etwas für mich bestimmt ist.“ Dieses innere Feuer führt ihn an das Sensorium als einen Raum heran, in dem das Essen zum Werkzeug wird, um innere Prozesse anzustoßen.
Rückkehr zu sich selbst: Das Laboratorium der Sinne
Das Ziel ist, den Menschen wieder mit sich selbst in Kontakt zu bringen. Denn Rottigni beobachtet eine zunehmende Entfremdung, eine Trennung von Körper und Geist, die durch die digitale Beschleunigung unseres Lebens verstärkt wird. „Wir haben verlernt, auf die Signale unseres Körpers zu hören“, sagt er. „Wir essen, ohne zu schmecken, wir schauen, ohne zu sehen.“ Das Non-Ristorante ist sein Gegenentwurf: Es ist ein Ort der Verlangsamung, der die Sinne rekalibriert und die Aufmerksamkeit nach innen lenkt. Sensorium Milano ist daher weniger ein Restaurant als ein Laboratorium der Sinne. Eben ein Non-Ristorante.
Lesen sie mehr in Kürze, mehr zum Ayahuasca-Menü, als Art rituellem Pfad, und den neurobiologischen Mechanismen, die dahinter liegen, in Teil 2 und Teil 3 des Features.
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