Ayahuasca: Eine Symphonie für die Sinne
Im Sensorium Milano wird die universelle, sinnliche Sprache des Essens zu einer meisterhaft komponierten Symphonie, die auf eine kulinarische Reise zu sich selbst einlädt.
von Eva Winterer
Wie eine Symphonie, enthüllt Federico Rottignis Sensorium Milano seine Geheimnisse in mehreren Sätzen. Die Philosophie des „Non-Ristorante", in der Via dei Crocefissi im Herzen Mailands, die zurückhaltend gestaltete Atmosphäre und die authentischen, reinen Zutaten, all das bereitet die Bühne für das eigentliche Herzstück: das Ayahuasca-Menü.
Der symphonische Abend im Sensorium Milano weckt sanft den Geist und die Sinne durch ein Zusammenspiel aus Raum, Klang und Licht. Die ersten Akkorde sind ein Auftakt zu einem zweistündigen sensorischen Konzert.
Ayahuasca: Der Zauber eines metaphorischen Rituals
Der Begriff Ayahuasca ist tief in der indigenen Tradition Südamerikas verwurzelt. In der Sprache der Quechua bezeichnet er ein Getränk als „Wein der Geister“ oder „Liane der Seelen“, das aus Banisteriopsis caapi, einer Lianenart, und weiteren Pflanzen wie der Psycotria vidirdis oder der Diploterys cabrerana gemischt ist. Es wird von den Quechua seit Jahrhunderten für rituelle nächtliche Zeremonien verwendet und hilft die Verbindung zur spirituellen Welt herzustellen.
Der Genuss des warmen Getränks wird von Schamanen mit Gesängen, Rauch und speziellen Ritualen begleitet. Es soll die Reise ins Ich eröffnen, verdrängte Erinnerungen an die Oberfläche bringen oder eine kollektive Heilung fördern. Es gilt als Medizin und Lehrmeister, der den Menschen zu sich selbst führt.
Rottigni wählte den Namen des Menüs bewusst provokant und gleichzeitig als poetische Metapher, ohne die psychoaktive Wirkung zu suchen oder zu imitieren. „Ayahuasca ist für mich eine Metapher für eine Reise ins Innere", betont er. „Es ist ein Weg, um Schichten der eigenen Persönlichkeit freizulegen, die im Alltag verborgen bleiben."
Eine sinnlich komponierte Dramaturgie
Das neungängige Menü ist sensorische Partitur. Jeder Gang ist eine neue Stufe dieses inneren Prozesses, von der ersten zögerlichen Annäherung an und der Berührung des Unbekannten bis zur sanften und innigen Umarmung zum Abschluss. Rottigni bewegt sich dabei mehr als Begleiter denn als Koch durch den Abend. Er führt die Gäste durch eine fast betörende Landschaft aus Geschmäckern, die auf der Zunge aufblühen, Texturen, die längst vergessene Erinnerungen erwecken, Gerüchen, die an den Fingern noch lange die Sinne berühren und Klänge, die förmlich umarmen.
„Jedes Element auf dem Teller, jeder Klang im Raum hat seine tiefere Berechtigung", erklärt Rottigni seine Komposition. „Es geht darum, einen geschützten, sinnlichen Rahmen zu schaffen, in dem sich die Gäste auf diese intime Reise einlassen können."
Diese Herangehensweise knüpft nahtlos an das an, was bereits durch die atmosphärische Vorbereitung erreicht wurde: Die gedämpfte Akustik und das warme, honigfarbene Licht haben bereits jenen Zustand der Offenheit geschaffen, den Charles Spence, Professor für experimentelle Psychologie an der Universität Oxford, als neuro-wissenschaftliche Voraussetzung für außergewöhnliche Wahrnehmungserfahrungen beschreibt.
Der Beginn: Mut zur ersten sinnlichen Berührung
Die intime Reise beginnt mit „La Medicina". Heilende Aromen legen sich wie ein sanfter Schleier über die Sinne und stimmen die Reisenden behutsam auf das Kommende ein. Darauf folgt „Non Chicken Curry“, in dem Vertrautes mit Überraschendem auf spielerische Weise verschmilzt. Der nächste Akt ist „Mareada“, der Wellen der Wahrnehmung wie eine sanfte Brandung durch den Körper ausbreitet. Es ist eine verlockende Einladung, alte Sicherheiten loszulassen und sich dem Unbekannten zu öffnen.
Empfänglich für neue Eindrücke, werden unbekannte Aromen als Bereicherung wahrgenommen. Der neuropsychologische Experte Spence beschreibt diesen Moment als besonders wichtig: „Experimente zeigen, dass negative Erwartungen den Geschmack verändern. Wenn es daher gelingt, durch den Kontext Vertrauen zu schaffen, wird selbst eine, im ersten Moment, herausfordernd erscheinende Empfindung zu einer spannenden und bereichernd Erfahrung.“
Tiefere Schichten: Reflexion und emotionale Durchlässigkeit
Wie in einer Symphonie wandelt sich mit Beginn des nächsten Satzes die Tonalität. „Magic Mushrooms Taco" spielt virtuos mit unerwarteten Texturen, die zwischen den Zähnen zerplatzen oder sanft schmelzen. „You" lädt mit seiner reduzierten Ästhetik zur Selbstreflexion ein und „Caothic Quantum" bringt scheinbar Chaotisches in eine überraschende Harmonie.
Ein Gang löst durch seine puristische Einfachheit eine fast meditative Stille aus, die sich wie warmer Honig über die Gedanken legt. Der nächste evoziert für jeden Gast unterschiedliche Düfte, die vom Geruch feuchter Erde bis zu einem warmen Sonnenregen reichen. Und plötzlich blitzen längst vergessene Kindheitserinnerungen vor dem inneren Auge auf.
Rottigni nutzt hier gezielt die direkte Verbindung zwischen dem Geruchssinn und dem limbischen System, dem pulsierenden Zentrum für Emotionen und den Erinnerungen. Diese wissenschaftliche Erkenntnis verschmilzt nahtlos mit seiner Philosophie der authentischen Zutaten: Produkte von kleinen Erzeugern, die „eine Geschichte erzählen und eine ganz besondere Energie in sich tragen", wie Rottigni meint, entfalten hier ihre transformative Kraft. Spence bestätigt: „Gerüche umgehen den rationalen Verstand. Sie können uns unmittelbar in vergangene emotionale Zustände versetzen."
Der emotionale Höhepunkt: Serendipity
Höhepunkt und für viele, wie Rottigni wahrnimmt, der emotionalste Moment ist „Serendipity". Dieses siebte Gericht besteht aus einer kleinen Schale cremigen Milchreis und verfeinert mit Früchten, bedeckt mit zarten weißen Oblaten, die direkt vor den Gästen mit einem sanften Knacken auf dem Teller zerbrochen werden. Es ist besonders der Milchreis, der bei vielen Menschen nostalgische Erinnerungen an die Geborgenheit der Kindheit wecken.
Das Dessert wird umhüllt von einer vielschichtigen Klanglandschaft: das vertraute Läuten von Schulglocken, die warme Stimme einer italienischen Lehrerin, später die räumlich versetzte, melancholische Stimme einer älteren englischsprachigen Frau, die in Erinnerungen schwelgt. Dazu webt sich ein sich wiederholendes, fast hypnotisches musikalisches Motiv mit tiefen Frequenzen, die den Körper sanft zum Schwingen bringen.
Diese multisensorischen Elemente verschmelzen zu einem außergewöhnlichen, ganzheitlichen Genusserlebnis, das Körper und Seele gleichermaßen berührt. Beobachtungen zeigen, dass etwa 10-20 Prozent der Gäste hier tatsächlich von Tränen überwältigt werden. Dieses bemerkenswerte Phänomen fließt in ein wissenschaftliches Paper von Federico Rottigni und Charles Spence ein, dass die beiden veröffentlicht haben – nachzulesen in den Insights.
Die abschließende Umarmung
Nach den intensiven und tiefen Erfahrungen folgt die behutsame Rückführung ins Hier und Jetzt. „Guiding Spirit" und „The Soul of Things" bilden den harmonischen Abschluss des Menüs. Diese Gänge symbolisieren die Klarheit nach dem emotionalen Gewitter und führen den Gast in einen Zustand der Ruhe und inneren Harmonie zurück.
Von neuro-wissenschaftlichen Erkenntnissen angeregt, senken diese abschließenden Geschmackserlebnisse das kognitive und emotionale Stress-Level und helfen dabei, die gewonnenen Einsichten sanft zu verankern. Sie vollenden den Kreis zu Rottignis ursprünglicher Vision: den Menschen wieder mit sich selbst in Kontakt zu bringen.
Der Dirigent im Hintergrund
Rottigni beobachtet die Reaktionen seiner Gäste aus respektvoller Distanz. Er greift niemals ein, moderiert auch nichts. Der Prozess soll ein zutiefst persönlicher bleiben. „Die Erfahrung gehört dem Gast. Ich stelle nur die Werkzeuge und den sinnlichen Raum zur Verfügung.“
Diese Position des bewussten Zurücktretens, ist die Basis für das Gelingen des Ayahuasca-Rituals. Sie schafft jenen geschützten Raum, in dem Verletzlichkeit möglich wird und sich entfalten kann. Gäste berichten von Momenten tiefer emotionaler Bewegung, von plötzlichen Einsichten, die wie Blitze durch das Bewusstsein zucken, oder einem Gefühl von einer lange vermissten Verbundenheit, das sie wie eine warme Umarmung umfängt.
Rottigni sieht sich in einer zentralen Beobachtung bestätigt: „Wir haben verlernt, auf die Signale unseres Körpers zu hören. Wir essen, ohne zu schmecken, wir schauen, ohne zu sehen." Das Sensorium Milano bietet definitiv einen sinnlichen Weg zurück zu dieser verloren gegangenen Aufmerksamkeit.
Ein Katalysator für die innere Landkarte
Das Menü, so Rottigini, ist ein lebendiger Katalysator, um die eigene Wahrnehmung zu erforschen und emotionale Blockaden behutsam zu lösen. Die einzelnen Komponenten – ein bitteres Kraut, das auf der Zunge prickelt, eine süße Wurzel, die Kindheitserinnerungen weckt, ein Hauch von Rauch, der durch die Nase strömt – werden zu sinnlichen Symbolen auf einer inneren Landkarte.
Die fließende Abfolge der Gänge, das subtile Zusammenspiel mit der Musik, die sich wie ein roter Faden durch den Abend zieht, und die kaum merklichen Veränderungen im Licht schaffen einen narrativen Bogen. Dieser führt sanft von der anfänglichen Neugier über Momente der sinnlichen Herausforderung und persönlichen Reflexion bis hin zur abschließenden, warmen Umarmung.
Eine zeitgenössische Neuinterpretation
Das Ayahuasca-Menü im Sensorium Milano ist eine zeitgenössische Neuinterpretation uralter Rituale. Es nutzt die universelle, sinnliche Sprache des Essens, um den Menschen auf eine behutsame Reise zu sich selbst zu führen. Es ist ein mutiges und zutiefst menschliches Experiment, das die Grenzen dessen, was ein Restaurant sein kann, sinnlich neu erfindet.
Das Restaurant erfüllt damit seine tiefere Mission: Statt nur satt zu machen, will es nähren – auf einer Ebene, die weit über das Stillen eines Hungergefühls hinausreicht und die Seele berührt. In einer Zeit der digitalen Überstimulation bietet es einen sinnlichen Raum der Entschleunigung und eine warme Rückbesinnung auf die eigene, oft verschüttete Wahrnehmung.
Wie die Reise zu seinem inneren Ich, enthüllt das Sensorium Milano enthüllt seine Geheimnisse in kleinen Schichten: von der ursprünglichen Philosophie über die rituelle Praxis bis hin zu den faszinierenden neurobiologischen Mechanismen, die solche transformativen Erfahrungen überhaupt ermöglichen - das Mysterium, dem wir uns im finalen Teil dieses Features widmen werden.
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Federico Rottigni hat für Sie die musikalische Reise durch den Abend in einer Spotify-Playlist zusammengestellt.
Die gibt es hier zum Download: AYAHUASCA Spotify-Playlist -
Das Paper über jene Momente tiefgehender, emotionaler Reaktionen, wurde von Charles Spence und Federico Rottigni im Jahr 2024 im "International Journal of Gastronomy and Food Service" veröffentlicht.
Quelle: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1878450X24000763