
Italienische Modeindustrie: Zwischen Sanduhr und neuer Renaissance
von Eva Winterer
Italienische Modeindustrie: Zwischen Sanduhr und neuer Renaissance
Zwischen Tradition und Transformation: Die Branche steht vor einer Phase der Neuausrichtung – mit Potenzial für einen wegweisenden Neubeginn.
von Eva Winterer
Photo: Inspiriert von Fondazione Altagamma
Als im Florenz des 15. Jahrhundert die Renaissance begann, war sie weit mehr als ein kulturelles Phänomen. Im Rückblick markierte sie einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel: weg vom Dogma, hin zur Neugierde. Es war der Beginn eines kulturellen Neuanfang – ein Wendepunkt für Europa. Die Mischung aus Innovation, Humanismus und Rückbesinnung auf antike Werte führte zu einer nachhaltigen Blüte mit weltweiter Ausstrahlung. Mäzene wie die Medici investierten in Kunst, Wissenschaft und in Handwerk, das sich seiner eigenen Würde bewusst wurde.
Heute, rund sechs Jahrhunderte später, steht Italien erneut am Scheideweg. Die Frage seiner Modeindustrie - der zweit wichtigsten Industrie des Landes gemessen an seiner Wirtschaftskraft – lautet nicht mehr nur: Was ist Luxus? Sondern: Was darf Luxus zukünftig sein – und was muss er leisten? Bedarf es einer zweiten Renaissance, eines tiefgreifenden Wandels, der die kulturellen Stärken mit modernen Strategien verbindet?
In diesem Kontext – dem Status quo einer Branche im Wandel und der Suche nach neuen Wegen – beschäftigt sich Silent Luxury in den kommenden Wochen mit der Frage: Wie könnte ein solcher Aufbruch heute aussehen?
Eine strukturelle Erschöpfung
Das Jahr 2024 kann durchaus als symbolisch bezeichnet werden. Weltweit verzeichnete der lange wachstumsverwöhnte Luxusgütermarkt erstmals einen Rückgang. Laut der „Luxury Goods Worldwide Market Study” von Fondazione Altagamma und Bain & Company, sanken die Umsätze um zwei Prozent. In Italien mussten alleine im Textil-, Leder-, und Konfektionsbereich rund 2.000 Betrieb schließen – darunter etwa 700 in den Marken und rund 300 in der Toskana.
Ein Warnzeichen, das aufrüttelt. Denn bis vor wenigen Jahren galt der italienische Luxus als verlässliches Versprechen für Herkunft und Authentizität. Inzwischen ist er zunehmend zum Versatzstück globaler Markenstrategie geworden – geprägt von Marktdruck, internationalen Subcontracting Strukturen und einer zunehmen austauschbareren Markeninszenierung.
Carlo Capasa, Präsident der Camera Nazionale della Moda Italiana (CNMI), beschreibt die Lage in einem Interview mit McKinsey (Mai 2025) als Symptom eines tieferliegenden Problems: „Unsere Lieferketten bestehen aus Bezirken, in denen sehr kleine, mittlere und große Unternehmen zusammenarbeiten. Der Vorteil dieses Systems ist, dass es viel Kreativität hervorbringt. Die Schwäche des Systems ist, dass Kleinst- und Mittelbetriebe unterkapitalisiert und oft unzureichend ausgestattet sind.“ Sein Fazit: „Wir müssen eine gewisse Größe erreichen, ohne die Kreativität der kleinen Unternehmen zu beeinträchtigen.“
Von Status zu Sinn
Emanuela Prandelli, außerordentliche Professorin am Department für Management und Technologie sowie LVMH Associate Professorin of Fashion and Luxury Management an der Universität Bocconi in Mailand, sieht es, auf Nachfrage von Silent Luxury differenziert: „Sicherlich befindet sich der Sektor in einer Phase offensichtlicher Schwierigkeiten – ob es sich dabei um ein vorübergehendes Phänomen handelt oder es strukturell wird, ist schwer zu sagen. Ich glaube jedoch, dass es einige Veränderungen im Konsumentenverhalten gibt, die dauerhaft sein werden.“ Als Beispiel nennt sie die junge Generation
Diese, so Prandelli, verabschiede sich zunehmend vom Gedanken der „aspirational consumption“ und folgt der „inspirational consumption“. Sie erklärt: „Ein hoher Preis alleine reicht nicht mehr, um Begehrlichkeit zu erzeugen. Die junge Generation orientiert sich an Werten. Sie wählen eine Marke nicht nur wegen ihre Produkteigenschaften, sondern einem Wert, den diese Marke für sie verkörpert und in den sie sich wiederfinden können.“
Ein weiteres Schlagwort prägt die aktuelle Debatte: Silent Luxury. Das leise, wertbasierte Luxusverständnis. Ein Begriff, der sich wie ein Mantra durch Statements von Marken, Verbänden und Analysten zieht. Hinter der semantischen Rebellion gegen Hyperkonsum, Logosucht und Preisinflation steht ein tieferer Strukturbruch – insbesondere für das Rückgrat der italienischen Modeindustrie: die Manufaktur, Handwerksbetrieb und Produktionscluster.
Das hat handfeste Folgen: Second-Hand wächst, Erlebniskonsum ersetzt Impluskäufe, der Preisdruck auf Mittelklasse-Segmente steigt.
Von Sanduhren und der Polarisierung des Konsums
Der Modemarkt gleicht im Jahr 2025 einer Sanduhr: Im gehobenen Preissegment wächst der Ultra-Luxus mit Individualisierung, Rarität und Authentizität. Im günstigen Preissegment expandieren funktionale Brands, die auf alltagstaugliche Basics setzen. Die Mitte wird immer dünner.
Laut Bain & Company haben sich über 50 Millionen Konsumenten weltweit aus dem Mid-Luxusbereich zurückgezogen – aus Preisgründen, jedoch auch, weil das gegebene Versprechen nicht mehr einlösbar war. Die Folgen spürt insbesondere Italien: Viele italienische Marken, historisch im Mid-to-High-Price-Segment verankert, geraten unter Druck. Sie sind zu teuer für den Massenmarkt, zu generisch für den Luxusmarkt.
Die strukturellen Veränderungen dieser Entwicklung zeigen sich bereits in der Marktform. Folgte der italienische Modemarkt lange dem Modell einer Pyramide, so formt er sich laut Prandelli heute als Sanduhr. Das mittlere Segment wird zunehmend schmaler – ein Effekt auch der wirtschaftlichen Krisen der vergangenen Jahre -, während das obere Segment, die Top 1 Prozent, den Großteil des Umsatzes generieren.
Diese Polarisierung, so Prandelli, hänge ebenso eng mit dem wachsenden Trend zum sogenannten „Mix and Match“ zusammen – der Kombination von Kleidungsstücken unterschiedlicher Marken und Preisklassen. „Selbst Konsumenten mit größerer Kaufkraft bewegen sich so in Richtung zunehmender Autonomie bei der Gestaltung des eigenen Stils.“ Prandelli betont, dass dieser Trend nicht auf die Modebranche beschränkt sei.
Eigentlich sind es ideale Voraussetzungen für das, was Capasa als besondere Stärke der italienischen, klein- und mittelständisch geprägten Modeindustrie bezeichnet: ihre Kreativität.
Die strategischen Implikationen liegen auf der Hand. Gefragt sind neue Positionierungskonzepte und eine tiefgreifende Transformation in allen Bereichen – einer Art zweiten Renaissance. Die Expertinnen und Experten sind sich nahezug einig: Die Branche muss ihre Grundstruktur neu ausrichten. Weg von kurzfristigen Preissetzungen und Massenproduktion, hin zu einer tragfähigen Balance aus Zeitlosigkeit, Qualität, kultureller Substanz und Innovationskraft. Ein Konzept „Made-in-Italy“ in unveränderter Form früherer Jahrzehnte wird dafür möglicherweise nicht mehr ausreichen.
Die zweite Renaissance: Eine historische Parallele mit Perspektive
Die erste Renaissance war geprägt von einem Abschütteln verkrusteter mittelalterlicher Strukturen. Ein kultureller Aufbruch, der Europas Kunst, Architektur, Wissenschaft und die Wirtschaft von Italien aus maßgeblich prägte. Sie entstand in einer Phase des Spannungsfeldes zwischen Unsicherheit und Innovation. Eine Parallele zur Gegenwart ist erkennbar. Ein fruchtbarer Boden für eine zweite Renaissance, die kommende Generationen prägen könnte?
Ein Ausblick
In den nächsten Wochen folgen Deep-Dives zur Entwicklung des italienischen Modemarkts, zu Slow Consumption, wertebasierter Ökonomie und strukturellen Lösungsansätzen für eine der wichtigsten Branchen des Landes.
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Insights
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La traduzione dell’articolo è disponibile qui per il download: https://the-silent-luxury.com/storage/sl_articolo_industria-della-moda-italiana.pdf