
Borgo La Pietraia: Ein Hotel wie ein Zuhause
von Eva Winterer
Borgo La Pietraia: Ein Hotel wie ein Zuhause
Ein Refugium im Cilento, mit Weitblick gebaut: klare Linien, regionale Materialien, offen zur Landschaft, ruhig im Ausdruck, atmosphärisch nah.
von Eva Winterer
Photo: Arianna und Raffaella Scariati, Geschäftsführerinnen von Borgo La Pietraia (v.l.n.r.)
Zwischen Himmel und Meer, an den Hang des Monte Calpazio geschmiegt, liegt Borgo La Pietraia – auf etwa 300 Metern Seehöhe, mit freiem Blick auf die weite Ebene von Paestum und das dahinterliegende Meer. Hier, in unmittelbarer Nähe zu einer Region mit bis heute sichtbarer griechisch-römischer Vergangenheit, entstand ein Ort, der weit über die klassische Hotellerie hinausgeht.
Die Anlage orientiert sich gestalterisch an dieser Nähe zu Paestum, doch ohne nostalgische Replik. Lokale Bautechniken wie Sandsteinmauern, klare Linienführung, Farben, die an die griechischen Tempelanlagen erinnern, treffen auf eine zeitgenössische Designsprache. Das Ergebnis ist kein historisierendes Konzept, sondern eine Verbindung von Landschaft, Geschichte, Material und moderner Architektur – subtil, präzise, organisch.
Borgo La Pietraia ist selbst kein historisches Gebäude, greift jedoch bewusst auf regionale Bautraditionen zurück. Die gesamte Anlage ist in Terrassenbauweise angelegt und folgt der natürlichen Hangform: mit niedrigen, dezent eingebetteten Einheiten, die sich harmonisch ins Gelände einfügen.
Wenn das Wort Hotel zu kurz greift
Borgo La Pietraia ist kein klassisches Hotel. Es ist ein Ort, an dem bewusste Entscheidungen spürbar werden – gestalterisch, architektonisch, menschlich. Jeder Bereich, jedes Detail, vom Material bis zur Führung des Hauses durch die Familie Scariati, ist durchdacht und konsequent umgesetzt.
Was diesen Ort besonders macht, lässt sich nicht allein mit Architektur oder Lage erklären. Es ist das Zusammenspiel: der Duft der mediterranen Pflanzen, der Blick auf Berge und Meer, die Wärme der Gastgeberinnen, das außergewöhnliche Essen, die sanfte Brise und das Gefühl, wirklich angekommen zu sein. Im Gegensatz zu vielen Orten, die auf Fotos besser wirken als in der Wirklichkeit, ist Borgo La Pietraia in der Realität noch schöner, noch stimmiger – in sich ruhend und niemals aufdringlich.
Das Boutique-Hotel umfasst zwölf Zimmer: vier Deluxe-Zimmer, sieben Junior-Suiten und eine Suite – alle mit privater Terrasse. Das architektonische Konzept: gebaut aus lokalem Stein, mit klaren Linien, farblich akzentuiert durch das Anklingen der Farbwelten antiker Tempel.
Die 29 Quadratmeter große Suite ist zurückhaltend elegant mit Möbeln von Pedrali, Emu und Designers Guild. Sessel und Vorhänge sind präzise ausgewählt, jedes Detail ist stimmig. Das Ergebnis ist ein komfortabler und zugleich raffinierter Rückzugsraum – ruhig, wohnlich, hochwertig. Die Terrasse öffnet sich, wie auch jene der anderen Zimmer, zur Bucht von Trentova und Punta Tresino, wo der Cilento beginnt und mit ihm die Geschichte des Hotels.
Die Entstehung: Ein Gespräch, ein Gelände, ein Projekt
Giovanni Scariati, Bauherr und Vater der Geschäftsführerinnen Arianna und Raffaella Scariati, erinnert sich in einem Gespräch mit der Architektur-Zeitschrift akeda an den Beginn „Ich hatte ein Grundstück von etwa zwei Hektar auf 350 Metern Höhe erworben, mit wunderschönem Panorama. Ich wusste, dass Pagliara in der Gegend verschiedene Projekte realisiert hatte, insbesondere die Cassa rurale BCC di Capaccio sowie andere Arbeiten in Paestum. Daher lud ich ihn ein, das Gelände zu besichtigen.“ Mit Pagliara ist Nicola Pagliara, Architekt und Professors an der Universität von Neapel, gemeint. Seine Werke sind beeinflusst von der organischen Architektur von Frank Lloyd Wright, Louis Sullivans und der Wiener Schule um Otto Wagner. Der 2017 verstorbene Architekt verstand Räume als „Gespräch zwischen Materie und Erinnerung“. Scarati erinnert sich, dass Pagliara sofort interessiert war: „Er war sofort begeistert, insbesondere von der geografischen Gegebenheit.“
Architektur aus dem Geist des Orts
Pagliara entwickelte eine Architektur im „Genius Loci“-Geist: Er respektierte Ort und Landschaft und ließ die Gebäude als organische Einheit mit dem Terrain verschmelzen. Er schlug vor, die Baukörper entlang der natürlichen Krümmung der vorbeiführenden Bergstraße nach Capaccio-Paestum zu gestalten. Eine Entscheidung, die technisch aufwendig war. Scariati erinnert sich: „Er schlug eine leichte, aber wichtige Krümmung der Gebäude vor, um dem Verlauf der Straße zu folgen. Natürlich führte dies zu höheren Kosten für die Herstellung der geformten Eisenbalken. Ich entschied mich trotzdem dafür, da mir die hohe Qualität des Projekts wichtig war.“
Die Farbgebung war das zweite zentrale Element: Fenster, Türen und Pergolen tragen kräftige Töne – rot, blau, grün, gelb –,sind inspiriert von den Originalfarben der Tempel von Paestum.
Ein Werk im Kontext von Pagliaras Oeuvre
Pagliaras Stil war Zeit seines Lebens vielfältig, blieb jedoch stets ortsbezogen. Zu seinen bekannten Werken im Cilento zählen die Casa „F“ in Santa Maria di Castellabate (erbaut 1966) – ein Manifest moderner Architektur mit spiralförmiger Treppe und terrassierten Übergängen – sowie eine später errichtete Villa an der Punta Licosa. Wie im Borgo La Pietraia greifen beide lokale Bautraditionen auf und verbinden sich mit dem Gelände, Licht und Atmosphäre.
Reduktion mit Tiefe
Die Architektur des Borgo La Pietraia lebt von ihrer Zurückhaltung. Sie funktioniert über Proportionen, Struktur und Material. Die Gebäude der Zimmer sind ebenerdig, mit Pietraia arenaria aus der Region errichtet – ein Stein, dessen gelblich-graue Töne das lokale Erdreich widerspiegeln. Materialien wie Holz und Eisen bringen mit kräftigen Anstrichen eine zeitgenössische Note in den traditionellen Kontext.
Die Innenräume sind großzügig und ruhig. Glas, Holz und Sichtstein prägen das Bild. Es gibt keine klassische Rezeption, kein Foyer – vielmehr führt ein als Wohnzimmer gestalteter Raum ins Gelände, von dem aus sich über verwinkelte Wege, begleitet von niedrigen, für die Region typischen Steinmauern, die Wohneinheiten erschließen. Die Atmosphäre erinnert an ein Borgo – ein Dorf – als an ein klassisches Hotel. Und immer und überall dieser traumhafte, beinahe hypnotisch wirkende Blick auf die Ebene von Paestum und das Meer.
Die Struktur erzeugt ein Gefühl von Nähe und Vertrautheit. Man ist sofort eingebunden, bewegt sich intuitiv und hat das Gefühl, hier wirklich zu wohnen – nicht bloß zu nächtigen.
Vegetation als Gestaltungsmittel
Die Landschaftsgestaltung war – und das ist bemerkenswert – nicht Teil des architektonischen Auftrags. Giovanni Scariati übernahm das Projekt persönlich: „Als ich das Grundstück erwarb, gab es nur einige Ulmen, Eichen und Olivenbäume. Ich habe über 7.000 Pflanzen gepflanzt – gut verteilt: Zypressen, mehr als 100 Olivenbäume, Rosmarin, Lorbeer, Johannisbrotbäume und einige Obstbäume."
Das Resultat ist ein Gelände, das in den heißen Monaten Schatten, Temperaturregulation und zugleich ein Gefühl von Privatsphäre bietet. Die Bepflanzung ist nicht ornamental, sondern funktional gedacht – und sie wirkt. Scariati: „Dies hat den Ort enorm bereichert und dazu beigetragen, auch in den heißen Monaten eine angenehme und ausgeglichene Temperatur zu schaffen."
Herzstück: Das Restaurant
Herzstück des Hotels ist das hauseigene Restaurant „Pietre“. Es liegt offen auf einer der oberen Terrassen, mit weitem Blick über das Tal, die gegenüberliegenden Berghänge und Orte auf ihren Rücken sowie die spektakulären Sonnenuntergänge über der Amalfi-Küste und Capri im auffrischenden Abendwind, der nach einem Tag um die 38 Grad Höchsttemperatur entspannend wirkt.
Die Küche ist regional verwurzelt, bewusst saisonal gehalten, die Auswahl reduziert, die Qualität dafür kompromisslos hoch und mit starkem vegetarischen Anteil. Traditionelle Rezepte werden hier mit Respekt und Kreativität neu interpretiert. Geschmacklich ist vieles überraschend, dabei immer stimmig. Vor allem aber: Man will sie nicht mehr missen. Die Küche begleitet den Aufenthalt so selbstverständlich und überzeugend, dass sie über das Essen hinaus in Erinnerung bleibt.
Borgo La Pietraia ist definitiv kein Hotel im klassischen Sinn. Es ist eine Art Rückzugsort, professionell geführt, familiär im besten Sinn. Diese Mischung aus unaufgeregter architektonischer Disziplin, landschaftlicher Einbettung, persönlicher Handschrift und gastgeberischer Wärme ist selten.
Cilento: Regionaler Ausdruck
Insgesamt wird deutlich: Borgo La Pietraia versteht sich nicht als Einzelprojekt, sondern als Teil einer Region, die einen bewussten Umgang mit dem Raum, den Ressourcen und der Gastlichkeit versteht. Der Cilento hat viel zu bieten – landschaftlich, kulturell, kulinarisch – wenig kohärente Hotellandschaften – und das ist gut so. Das Borgo zeigt, wie Qualität, Zeit, Ruhe und Maß eine Alternative schaffen können.
Giovanni Scariati bringt es im Interview mit der Architektur-Zeitschrift akeda selbst auf den Punkt: „Vielen Dank, Nicola Pagliara, und vielen Dank an alle, die an uns geglaubt haben. In vielen Fällen wurde das Cilento leider durch hässliche Gebäude entstellt. Dieses Projekt sollte das Gegenteil davon sein."